Die pädagogisch-psychologische Konzeption der Krishnamurti-Schulen

2. Die Entwicklung der Lehre

Nach der Inobhutnahme des jungen Krishnamurti in die Theosophische Gesellschaft  wuchs dieser ganz in deren Welt und Einfluß auf. C.W. Leadbeater und Annie Besant bestimmten, mit welchen Personen und welcher Umgebung Krishnamurti Kontakt haben durfte. Annie Besant wurde ihm bald zu einer zweiten Mutter, zumal seine eigene Mutter sehr früh verstarb. 
In seinen Jugendjahren versuchte K. die an ihn gestellten Erwartungen völlig zu erfüllen. Er ging ganz in der okkulten Welt der Theosophischen Gesellschaft auf. Erhellende Worte schreibt P. Jayakar in ihrer Biographie über Krishnamurti:

    "... stellen wir fest, daß es sich bei seinen Begegnungen mit Meister K.H., dem Mahachohan, dem Maitreya (okkulte Wesenheiten, Meister der Weisheit im Weltbild der Theosphischen Gesellschaft, Anm. d. Verf.) und dem Buddha um Visionen handelt, die oft im Traumzustand auftraten. Er hatte diese Visionen schon im Kindesalter. Damals, als seine junge, zarte Seele ständig mit der esoterischen Bilderwelt und den Gedankenformen Leadbeaters konfrontiert wurde, sah er die Meister natürlich so, wie sie auf den Darstellungen in der esoterischen Abteilung der Theosophischen Gesellschaft abgebildet waren" (Jayakar, P. 1988, S. 79f).
Im August 1922 in Ojaj begannen in K. Prozeße der Transformation, die sein Leben verändern sollten: Diese "Einwirkungen" (Mary Lutyens) oder "Prozeße intensiver spiritueller Erweckung" (Pupul Jayakar) kamen in Wellen und dauerten bis zum Herbst 1924.

In den folgenden Jahren begann sich eine Kluft zwischen K. und der Theosophischen Gesellschaft aufzutun: Fast inflationär häuften sich Initiationen, Einweihungen von führenden und prominenten Mitgliedern der Theosophischen Gesellschaft durch die okkulten Meister. Dieser Entwicklung, wie auch die Ankündigung der Gründung einer Weltuniversität und einer neuen Weltreligion beunruhigten und bestrzten K. sehr, als er davon hörte. Ebenso trug der frühe Tod seines geliebten Bruders Nitya zu einer Erschütterung seiner bisherigen Vorstellungen und seines Glaubens an die "Meister" wesentlich bei. Shiva Rao, ein enger Freund schrieb: "Die Nachricht (vom Tode seines Bruders, Anm. d. Verf.) ließ ihn völlig zusammenbrechen, ja mehr als das: In diesem Moment wurde seine gesamte Lebensphilosophie - der blinde Glaube an die Zukunft, wie sie ihm von Mrs. Besant und Leadbeater aufgezeigt worden war und an die Rolle, die Nitya darin spielen sollte, zerstört" (Rao, S., zit. n. Jayakar, P. 1988, S. 80).
Pupul Jayakar berichtet hierzu:

    "Jahre später, als er zögernd über diese Zeit in seinem Leben sprach, räumte er ein, daß vielleicht gerade die Intensität seines Schmerzes eine tiefere, allumfassende Wahrnehmung jenseits aller Worte in ihm wachgerufen hatte. Eine Intelligenz, die langsam, innerhalb vieler Jahre gereift war und in ihm geschlummert hatte, begann im Moment des akuten Leidens zu arbeiten" (Jayakar, P. 1988, S. 81).
Auf einem Treffen seines Ordens 1927 wurde die Diskrepanzen nun für jedermann deutlich; er sagte: "Während vieler Leben und auch im Laufe dieses Lebens - und ganz besonders während der vergangenen Monate - habe ich darum gekämpft, frei zu sein. Frei von meinen Freunden, meinen Büchern, meinen Bindungen. Ihr müßt für die gleiche Freiheit kämpfen. Ihr müßt ständig in Aufruhr sein" (Archive der Theosophischen Gesellschaft, Adyar, Madras, zit. n. Ja-yakar, P. 1988, S. 85). Über diese Entwicklung schreibt Pupul Jayakar: "Nach einem langen Reifungsprozeß streifte Krishnamurti´s Bewußtsein jene Schichten, die oberflächlich auf die theosophischen Rituale und Hierarchien angesprochen und sie akzeptiert hatten, ab und kam unverbildet und ohne die geringste Narbe zum Vorschein" (Jayakar, P. 1988, S. 84). 

Zwei Jahre später folgte die logische Konsequenz der Ablehnung von Einweihungen, Hierarchien und okkulten Meistern. Am 3.August 1929 löste er die für ihn gegründete Organisation, den "Order of the Star of the East" mit folgender Rede auf: 

    "Ich behaupte, daß die Wahrheit ein unwegsames Land ist und daß es keine Pfade gibt, die zu ihr hinführen - keine Religionen, keine Sekten. Das ist mein Standpunkt, den ich absolut und bedingunglos vertrete. Die Wahrheit ist grenzenlos, sie kann nicht konditioniert, sie kann nicht auf vorgegebenen Wegen erreicht  und daher auch nicht organisiert werden. Deshalb sollten keine Organisationen gegründet werden, die die Menschen auf einen bestimmten Pfad führen oder nötigen. Wenn ihr das einmal verstanden habt, werdet ihr einsehen, daß es vollkommen unmöglich ist, einen Glauben zu organisieren. Der Glaube ist eine absolut individuelle Angelegenheit und man kann und darf ihn nicht in Organisationen pressen. Falls man es tut, wird er zu etwas Totem, Starrem; er wird zu Gier, zu einer Sekte, einer Religion, die anderen aufgezwungen wird. Die Wahrheit wird in Formen gepreßt und zu einem Konsumgut für die Schwachen, die nur eine momentane Unzufriedenheit spüren. Der Mensch kann die Wahrheit nicht zu sich herabziehen, sondern muß sich bemühen, zu ihr aufzusteigen. (...) Ich möchte keiner spirituellen Organisation, ganz gleich welcher Art, angehören, und ich bitte euch, das zu verstehen. Ich betone noch einmal, daß keine Organisation einen Menschen zur Spiritualität führen kann. Wenn eine Organisation zu diesem Zweck gegründet wird, so wird sie zu einer Krücke, die euch schwächt, zu einem Gefängnis. Solche Organisationen verkrüppeln das Individuum, hindern es daran zu wachsen und seine Einzigartigkeit zu leben, die ja darin liegt, daß es ganz alleine diese absolute, uneingeschränkte Wahrheit entdeckt. Das ist ein weiterer Grund dafür, daß ich mich - da ich der Präsident des Ordens bin - entschlossen habe, den Orden aufzulösen. Niemand hat mich zu dieser Entscheidung gedrängt oder überredet. Das ist keine großartige Tat, denn ich will keine Jünger oder Anhänger; ich meine das so, wie ich es sage. In dem Moment, in dem man beginnt, jemandem zu folgen, hört man auf, der Wahrheit zu folgen."
    (Jayakar, P. 1988, S. 86f).
Doch erst nach 1947 begann Krishnamurti`s breitangelegtes öffentliches Wirken welches er mit unverminderter Intensität und den Bedürfnissen der sich wandelnden Zeit angepassten Themen bis zu seinem Tod fortsetzen sollte. Gab K. in den frühen Jahren nach der Lösung von der Theosophischen Gesellschaft viele Interviews und führte zahlreiche Diskussionen, so traten diese später zugunsten seiner Vortragstätigkeit in den Hintergrund.