Die pädagogisch-psychologische Konzeption der Krishnamurti-Schulen 3. Die Lehre

Obwohl die Lehre von Jiddu Krishnamurti bereits in der zitierten Rede vom 2.August 1929 in seiner Essenz nahezu vollständig enthalten ist, sprach K. über 6o Jahre lang bis zu seinem Tod ungezählte Male über daß, was er jenseits der Worte zu vermitteln suchte. Eine Erklärung für dieses unermüdliche Wirken gibt uns Mary Lutyens in ihrem Buch "Krishnamurti, Jahre des Erwachens". Sie schreibt:

    "In diesen Versuchen mit immer neuen Worten und Sätzen das auszudrücken, was eigentlich unaussprechlich ist, ist zweifellos die Erklärung für die ständigen Wiederholungen zu sehen, die bei K`s Reden so oft kritisiert werden. Wenn ein Satz dem Hörer nicht einleuchtet, tut es vieleicht ein anderer Satz, wenn ein Wort seine Meinung nicht übermitteln kann, tut es vielleicht ein Synonym jenes Wortes"  
    (Lutyens, M. 1981, S. 328).
Eine weitere Biographin berichtet uns über die Art und Weise wie Krishnamurti mit seinen  Zuhörern in Beziehung trat. Pupul Jayakar unterscheidet fünf Arten, wie K. versuchte, Zugang zu all jenen zu finden die an seiner Lehre interessiert waren.
    "Während dieser Jahre (1947 und 1948, Anm. des Verf.) bildeten sich die fünf Ebenen der Kommunikation heraus, die seine Art zu lehren in Zukunft ausmachten: öffentliche Vorträge, Dialoge und Diskussionen, persönliche Gespräche, scheinbar zufällig bei Tisch oder auf Spaziergängen wiedergegebene Einsichten und - Stille. (...) Es war eine nüchterne einfache Lehre - nicht in dem Sinne, daß sie Entsagungen oder Opfer gefordert hätte ... sondern weil sie jegliche Anker, Krücken und Rituale - selbst die subtilsten - ausschloß und nichts bot, woran man sich festhalten konnte"
    (Jayakar, P. 1988, S. 114).
Krishnamurti wirkte und beeindruckte stark durch seine persönliche Ausstrahlung. Personen, die seine Reden später gedruckt lasen, befanden, daß sein Anliegen in dieser Form nur mehr sehr geschwächt und bei weitem nicht in seiner ursprünglichen Intensität zum Ausdruck kommt.


3.1 Einige Aussagen von Krishnamurti anhand ausgewählter Thematiken

Die folgenden Stichworte stellen eine kleine Auswahl von Themen dar, mit denen K. arbeitete, um dem Zuhörer von jeweils verschiedenen Ausgangspunkten Zugänge zu dem zu öffnen, was er vermitteln wollte.
Zu jedem Punkt gibt es ebenfalls eine große Vielfalt von Äußerungen; verständlicherweise kann jedoch jeweils nur ein kleiner Ausschnitt versuchen, K.'s Anliegen zu beleuchten. Die Auswahl ist subjektiv, versucht jedoch einen Bezug zu den K.-Schulen herzustellen.

Doch zunächst noch einmal: Worum geht es Krishnamurti überhaupt?
Er glaubte, das alle Konflikte, ob in Beziehungen oder persönliche Probleme, aber auch Armut oder die Ungerechtigkeit in der Welt, nur Auswirkungen unseres inneren Zustandes sind. Nicht an die äußerliche Beseitigung dieser Mißstände sei zu allererst zu denken, sondern an eine Transformation des Menschen in seinem Inneren, einer radikalen Umwandlung, welche nichts zu tun hätte mit einer neuen Weltanschauung oder Religion. 
Offensichtlich, so erkannte er, ist der Mensch konditioniert durch Vorurteile, Traditionen, sein Volk, der Rasse etc. Es seien die Menschen, die einnander durch diese Trennungen zerstören:

    "Es wird immer klarer, daß nicht Umweltprobleme, Hungertod und Armut oder die allgemeine Ungerechtigkeit das eigentliche Anliegen sind, sondern die Tatsache, daß die Menschen selber mehr und mehr zum Terror dieser Welt werden. Es sind Menschen die einnander zerstören. Sie spalten sich durch zerstörerische trennende Vorgänge in Klassen und Nationalitäten. (...) Wir sind zu einer gegenseitigen Gefahr geworden; denn uns trennen die organisierten Religionen, die Glaubensbekenntnisse und Dogmen mit ihren Ritualen, dieser ganze Unsinn. Kriege, Kriegsvorbereitungen und Atombomben - Sie alle kennen den Schrecken dieser Welt. (...) Warum sind wir nach Jahrmillionen der Evolution, in denen wir enormes Wissen und Erfahrung gesammelt haben, immer noch dieselben? Warum leiden wir immer noch, hassen einnander immer noch, leben in persönlichen Illusionen? Warum sind wir stammesgebunden, setzen uns für Nationalitäten ein? Wo liegt die Ursache hierfür?" (Krishnamurti, J. o.J., S. 7-9).
Dies ist eine Frage,  die Krishnamurti - in Variationen - immer wieder stellt. Nun darf der Leser von K. keine Beantwortung im üblichen Sinne erwarten. Im Gegenteil; Krishnamurti gibt die Frage an denjenigen, der sie stellt, zurück: "Er lehrte den Zuhörer, sich wie in einem Spiegel zu betrachten - seinen Schmerz, seine Wut, seine Angst und Einsamkeit zu beobachten" (Jayakar, P. 1988, S. 116).

3.1.1 Das Ich

Ein zentraler Punkt in der Lehre Jiddu Krishnamurti's ist die Frage nach dem Ich.

Während die Aufgabe der Psychologie bei Freud darin liegt, unbewußte Ich-Anteile in das Ich zu integrieren um auf diese Weise (bereits aufgetretene) Konflikte aufzulösen, erkennt Krishnamurti bereits in der Annahme der Existenz eines Ichs das eigentliche Problem: Nicht eine Ich-Stabilisierung wird bei K. angestrebt sondern des-sen Auflösung.
Das Ich, Selbst oder auch Ego (Krishnamurti macht hier keinen Unterschied) ist für K. hingegen die Ursache aller Konflikte. Das Ich, erklärt er, ist ein Produkt, eine bloße Struktur des Denkens: "In sich selbst hat es keine Realität" (Krishnamurti, J. 1984, S. 22).
Warum schuf nun aber das Denken etwas, das wir "Ich" nennen?

    "... weil das Denken nach Sicherheit und Stabilität verlangt ... Aber das Denken ist unsicher, in sich selbst zerbrochen, darum hat es das 'Ich' geschaffen als etwas Bleibendes, das als abgetrennt vom Denken erscheint und das vom Denken wiedererkannt wird als etwas Beständiges. Und diese Beständigkeit wird identifiziert durch Verhaftung - wir sagen: mein Haus, mein Charakter, meine Wünsche, mein Verlangen - was dem 'Ich' ein volles Gefühl der Sicherheit und der Fortdauer gibt"
    (Krishnamurti, J. 1984, S. 17f).
Das Ich sei also vom Denken geschaffen in der Absicht unserem Leben (die Illusion von) Sicherheit und Stabilität in unseren Beziehungen, unseren Handlungen, unserer ganzen Existenz zu verleihen. Das Denken schuf und schafft fortwährend auf der Grundlage des Ichs die (scheinbar schützende) Trennung in Subjekt und Objekt, den Beobachter und den Beobachteten und somit die Basis für den Konflikt. Dieser Konflikt führt jedoch nicht zur Zerstörung des Ichs, sondern die Aufrechterhaltung und Stabilisierung dieses Selbst wird nun mittels der Identifikation des Einzelnen mit seinem Denken, seinen Erfahrungen, seinen Ideen etc. erreicht und gesichert. Diese Versuche der Aufrechterhaltung der Ich-Identität - nicht des bloßen Sich-Selbst-Bewußtseins - wird nach außen projiziert in Form von Ideologien, Machtansprüchen und schließlich Gewalt.

Krishnamurti negiert (in letzter Konsequenz) alle Strukturen, die man sich zu Hilfe nehmen könnte, indem er sie als weitere  Konzepte, Vorstellungen usw. die dem Ich entspringen, entlarvt und nicht zulässt.

Er verneint nicht generell ihre Sinnhaftigkeit, nur vermöchten diese Hilfskonstruktionen keine radikale Transformation des menschlichen Geistes hervorzubringen, eines Geistes, der sein Handeln in der Welt nicht mehr aus Konzepten, Weltanschauungen, Nachahmungen und letztlich Verwirrung schöpft.

Kann nun aber das durch das Ich verursachte Leid  enden, und wenn ja, wie?
Diese Frage selbst stellt für Krishnamurti eine Projektion unseres Zustandes dar: "Die Forderung nach dem Aufhören des 'Ich' wird jetzt zur neuesten Tätigkeit des 'Ich', aber sie ist nichts Neues, sondern nur eine weitere Form des Verlangens" (Krishnamurti, J. o.J., S. 153).

3.1.2 Denken

Das Denken kann also nach K. keine Lösung für unsere Konflikte darstellen, ebensowenig aus dem Denken entstammende Weltanschauungen, bestimmte Werte, persönliche Ansichten etc. Denken sei ein trennender, analytischer Vorgang und könne niemals die Wirklichkeit sein. Vielmehr stelle es eine Reflexion unserer persönlichen, konditionierten Sicht der Dinge dar. Dies zu erkennen, und zwar nicht nur auf einer intellektuellen Ebene mittels dem Denken, dem Verstand oder aber gar als Dogma und bloß übernommene Ansicht anzunehmen, ist K.'s Anliegen.

    "Das Denken ist ein Vorgang in Zeit und Raum. Das Denken ist Gedächtnis, die Erinnerung an Vergangenes. Das Denken ist die Aktivität des Wissens... Wenn Sie die Aktivität Ihres Denkens beobachten, werden Sie erkennen, daß Erfahrung und Wissen die Grundlage Ihres Lebens sind. Wissen ist niemals vollständig. Es geht immer Hand in Hand mit Unwissenheit. (...) Zeit, Wissen, Gedächtnis, Denken sind eine einzige Einheit. Das sind keine getrennten Aktivitäten, sondern ein einziger Vorgang. Denken, das der Zeit angehört, hat seine Grenzen. Denken, das dem unvollständigen Wissen entspringt, muß unvollständig, daher begrenzt sein. Religiöser Glaube ist begrenzt. Eine Erfahrung, die Sie gemacht haben oder nach der Sie sich sehnen, ist begrenzt. Jede Erfahrung muß begrenzt sein" (Krishnamurti, J. 1983, S. 23-25).
Das Fragmentarische, Begrenzte unseres Denkens und damit auch die Unvollkommenheit jeder daraus erfolgten Handlung wird durch diese erhellende Aussage einsichtig.
Das Denken also speist sich aus der Erinnerung, es ist nach K. "immer alt". Hiermit umreißt er ebenfalls die Grenzen des Denkens und folgert:
    "Eine neue Tatsache kann nicht durch das Denken wahrgenommen werden. Sie kann später durch das Denken dem Worte nach begriffen werden; aber das Verständnis für eine neue Tatsache ist dem Denken nicht gegeben. Das Denken kann niemals ein psychologisches Problem lösen"
    (Krishnamurti, J. 1985, S. 90).
Es sei betont, K. sagt: "psychologisches Problem". Damit verneint er nicht die Bedeutung des Denkens und des Wissens für das tägliche Leben. Auch strebt K. keinesfalls ein Zurück in präpersonale, vorbewußte Zustände des Menschen mit seiner Kritik des Denkens an.
Vielmehr versucht er die verherrenden Auswirkungen die das Denken im Zusammenspiel mit dem Ich in unserem Leben und in unseren Beziehun-gen erzeugte, aufzuzeigen. Er fragt, ob eine andere, ganzheitliche Wahrnehmung der Welt erreicht werden kann, die nicht durch den Filter des zergliedernden, trennenden Denkens läuft.
Hierzu untersucht er das Verhältnis zwischen dem Denkenden und dem Gedanken und sagt, die Illusion des Ich könne nur dann enden, wenn der Denkende erkennt, daß er und der Gedanke nicht zwei verschiedene Entitäten, sondern im Grunde vö00llig  identisch sind. Diese Ich-losigkeit, in einem transpersonalem Sinne,  impliziert die Erkenntnis der Einheit aller Dinge. (Wobei, wie wir in der Einführung ge-sehen haben, die Grenzen der Beschreibbarkeit an sich bereits überschritten sind.)
Eine wichtige und sehr tiefgreifende Aussage von K. lautet in diesem Zu-sammenhang, das Bewußtsein eines jeden Menschen sei das Bewußtsein der gesamten Menschheit. Menschliches Sein gewinnt hierdurch eine völlig neue Qualität und Bedeutung, impliziert sie doch Verantwortlichkeit für alles Existente, auch wenn dies Verantwortlichkeit gedanklich nur fragmentarisch  nachvollziehbar ist. (Dieser Verantwortlichkeit kommt dann eine besondere Bedeutung in der Erziehung zu.)

Doch noch einmal sei der Hinweis erlaubt, daß diese Folgerungen nicht nur vom Denken allein verstanden werden dürfen. Das Denken, der Verstand, kann sich selbst nicht erklären und deswegen ist ein überschreiten niemals durch das Denken möglich.
Krishnmurti's Herangehensweise an diesen Vorgang ist eine andere:

    "Wenn Sie jedoch diese Aussagen betrachten und sie erklären, ihnen aber Ihre vollkommene Aufmerksamkeit zuwenden (nicht Konzentration), werden Sie entdecken, daß es weder den Beobachter noch das Beobachtete gibt, weder den Denker noch den Gedanken. Sagen Sie nicht, 'Was war zuerst?'; das ist ein geistreiches Argument, das nirgendwohin führt. Sie können es in sich selbst beobachten: Solange kein Gedanke da ist - was nichts mit Gedächtnisschwund und Hohlheit zu tun hat -, solange keine Gedanken bestehen, die aus der Errinnerung, der Erfahrung, dem Wissen abgeleitet sind und die alle der Vergangenheit angehören, gibt es überhaupt keinen Denker"
    (Krishnamurti, J. 1985, S. 91-92).

3.1.3 Ideen und Ideale

In diesen Zusammenh„ngen gewinnen Ideen und Ideale ebenfalls eine völlig neue Bedeutung. K. schreibt ihnen keine weltverbessernde Bedeutung zu, sondern versucht im Gegenteil vielmehr ihre Gefährlichkeit darzustellen, wenn diese ihren Ursprung auschließlich  aus dem Denken und dem Ich haben.
Ideen und Ideale sind eine weitere Ursache unserer Konflikte:

    "Die Idee ist uns wichtiger als die Wirklichkeit; was wir sein sollten, liegt uns mehr am Herzen, als was wir sind. (...) Unser Streben ist ständig darauf gerichtet, diese Wirklichkeit in die Schablone unserer Vorstellung zu pressen. Da uns dies nicht gelingt, schaffen wir damit einen Gegensatz zwischen dem was ist, und dem, was sein sollte. Was sein sollte, ist unsere Idee, die Schöpfung unserer Phantasie, es kommt also zum Konflikt zwischen Illusion und Wirklichkeit - nicht nach außen hin, sondern in uns selbst"
    (Krishnamurti, J. o.J., S. 100, Hervorh. im Original).
Ideale sind für Krishnamurti Projektionen des Denkens, auf das Ich gerichtete Betätigungen, die für die Erfüllung seiner Bedürfnisse und die Ursache für deren Erzeugung wären. 
Letztlich dienten Ideale uns nur dazu, um von uns selbst, unseren eigentlichen Problemen und Konflikten, abzulenken, um nicht auf sie schauen zu müssen. Aus diesem Grunde verlagerten wir die Konflikte nach außen und benennen unsere eigenen Zustände und Eigenschaften mit dem exakten Gegenteil dessen was wir sind: Wir sind gewalttätig, darum erschaffen wir das Ideal der Gewaltlosigkeit, wir hassen einnander, darum haben wir das Ideal der Liebe, wir sind innerlich unsicher und verwirrt, darum streben wir nach Ordnung.

Wir erschaffen und proklamieren also Idealzustände, die es zu erreichen es gilt:
1. In uns selbst; hierdurch entsteht der Konflikt in der Person durch daß, was in Wirklichkeit ist, und dem was sein sollte, und 
2. bei und für andere;  Ideale werden propagiert, es wird für sie gekämpft und versucht sie (oft mit allen Mitteln) durchzusetzen (wie uns die Geschichte lehrt).

Doch gerade das Anstreben des Gegensatzes unserer erkannten Eigenschaft durch die Vorstellung, die Idee, erzeugt die Fortdauer des Konflikts: Krishnamurti nimmt als Beispiel die Gewalt:

    "Um jenseits der Gewalt zu sein, darf ich sie nicht unterdrücken, sie nicht ablehnen, darf ich nicht sagen, 'Sie ist nun mal ein Teil von mir ... Ich muß auf sie schauen, ich muß sie erforschen, ich muß mit ihr vertraut werden, und das kann ich nicht, wenn ich sie verurteile oder rechtfertige"
    (Krishnamurti, J. 1985, S. 49).
K. verschließt damit auch gleichzeitig jeden Fluchtweg, wenn er zu Bedenken gibt daß dieses Forschen nie auf der Ebene des Ichs, oder des Denkens liegen kann. Hierdurch würde der Konflikt gerade wieder erzeugt. So werden Ideen, Ideale, das Denken und das Ich im Zusammenspiel zum Ursprung der Konflikte und bedingen sich gegenseitig.

Krishnamurti's Umgang, seine Betrachtung des Problems, der Konflikte, entzieht sich wiederum jeder  intellektuellen, analytischen Methode: 

    "Sie haben nun eine Reihe von Darlegungen gelesen, aber haben Sie wirklich verstanden? Ihre Voreingenommenheit, Ihre Lebensart, die Struktur der Gesellschaft, in der Sie leben, hindern Sie daran, eine Tatsache anzuschauen und unmittelbar und gänzlich frei zu sein. Sie sagen, 'Ich will darüber nachdenken; ich will überlegen, ob es möglich ist, von der Gewalt frei zu sein oder nicht. Ich will versuchen frei zu sein.'Dieses 'Ich will versuchen' ist das Schrecklichste, was Sie sagen können. Es gibt kein Versuchen, Sie können nicht ihr Bestes tun wollen"
    (ebd. S. 52).
Hier zeigt sich, daß K. dem Zuhörer, oder Leser keinen Weg, keine Methode offeriert, keine vorgefertigte Lösung anbietet, sondern vielmehr es jedem einzelnen überläßt, auf einer nichtbegrifflichen Ebene mit diesem Problem zu arbeiten.

3.1.3 Zeit

Krishnamurti unterscheidet zwischen chronologischer und psychologischer Zeit. Nicht die chronologische Zeit steht im Mittelpunkt seiner Diskussion, sondern die psychologische Bedeutung der Zeit: "Sie ist das Intervall zwischen Idee und Handlung" (Krishnamurti, J. 1985, S. 65).

Zeit (im psychologischen Sinne) ist für K. die Spanne zwischen dem was ist und dem, was sein sollte; künstlich vom Denken erschaffen. Durch unsere Vorstellung von dem (was in Zukunft) sein sollte, wird unsere Aufmerksamkeit, unser Leben im Jetzt auf eine imaginäre Zukunft verlagert und mit ihr unsere Konflikte, Probleme und Wünsche. Dieser Vorgang verhindert ein Schauen auf, ein tiefes Erkennen unserer jeweiligen jetztigen Situation. Eine Problemlösung wird in eine (nichtexistente) Zukunft projiziert. Ängste, die Angst vor dem Tod, Wünsche, das Verlangen nach Wiederholung einer (vergangenen) lustvollen Handlung sind ein Problem unserer Verhaftung an die Zeit und das Denken.
K. versucht zu verdeutlichen, daß unsere Vorstellung von, unser Denken über Zeit, den Konflikt in sich trägt.

    "Das Denken, das in diesen Prozeß eingefangen ist, stellt die Frage: "Was ist Zeit?" Und diese forschende Frage kommt aus dem Mechanismus der Zeit. Darum hat das Nachforschen keinen Wert, dann der Gedanke ist Zeit. Das Gestern hat das Denken hervorgebracht, und so teilt der Gedanke den Zeitraum in gestern, heute und morgen ein. Oder er sagt: "Es gibt nur die Gegenwart", und vergißt dabei, daß die Gegenwart selbst das Ergebnis des Gestern ist"
    (Krishnamurti, J. o.J., S. 94)
Und wiederum schneidet Krishnamurti den intellektuellen Fluchtweg ab, indem er die sich aufdrängende Frage, wie diese psychologische Implikation zu beenden sei, entlarvt als weitere Idee, als Wunsch der dem Denken, dem Ich entspringt. Das Intervall ist von Neuem entstanden, die Bindung an die (psychologische) Zeit da.
K. geht soweit zu sagen, Zeit existiere nur dann, wenn es ein Denken gibt. Nimmt man den Denkvorgang weg, so gibt es auch keine Zeit. 
Doch nicht das Denken an sich ist das Problem, sondern die psychologische Bindung an die Zeit, die ich-verhaftetes Denken mit seinen projizierten Wünschen in die Vergangenheit und Zukunft schafft.

Wahre, und damit konfliktfreie Handlung ist für K. dagegen immer unmittelbar; sie gehört nicht dem Bereich der Vergangenheit oder der Zukunft an, ist somit zeitlos. Handlungen jedoch, denen  Intervalle (und damit Zeit) zwischengeschaltet sind, sind so gefährlich, so ungewiß, daß sie nach Ideen ausgerichtet werden, von denen gehofft wird, daß sie uns gewisse Sicherheiten geben. Diese Ideen, dieses Denken konditionieren die Handlung.

    "Denken ist Zeit. Denken wird aus Erfahrung und Wissen geboren, und beides ist mit Zeit und Vergangenheit untrennbar verbunden. Zeit ist der Feind der menschlichen Psyche. Unser Tun stützt sich auf Wissen und damit auf die Zeit, so daß der Mensch immer Sklave der Vergangenheit ist. Denken hat immer seine Grenzen, und deshalb leben wir in dauerndem Konflikt und Kampf. Es gibt keine Evolution der Psyche" (Krishnamurti, J. 1980, o.S.)
3. Krishnamurti über Erziehung

Die obigen Ausführungen können nicht getrennt von den folgenden Themen gesehen werden. Vielmehr bilden sie gewissermaßen ein Fundament für den folgenden kurzen Abriß der Aussagen von K. über Erziehung und müssen in deren Lichte betrachtet werden.

Die Notwendigkeit und die Bedeutung einer anderen Erziehung leitet K. ebenfalls aus der Betrachtung des Zustandes der Welt ab:
Er kritisiert unsere einseitige Betonung des Erwerbs von Wissen und  die möglichst konfliktfreie Einordnung in die Mechanismen unserer Gesellschaft mit ihren Werten und Traditionen, in welcher Leistung und Erfolg oft an erster Stelle stehen. 
Demgegenüber sollte wahre Erziehung "dem Schüler helfen, alle gesellschaftlichen Unterscheidungen und Vorurteile zu erkennen und bei sich niederzureißen..." (Krishnamurti, J. o.J., S. 44). Eine solchermaßen ausgerichtete Erziehung soll den Schüler oder das Kind jedoch nicht dazu ermutigen, von vornherein Konventionen oder Umgangsformen zu mißachten - dies wäre nur eine Reaktion auf die Gesellschaft und nicht wirklich freies Handeln - sondern es soll vielmehr nach den  Auswirkungen und den Ursachen unserer korrumpierenden Gesellschaft in uns selbst geforscht werden.

Erziehung wie sie heute vielfach verstanden wird "bietet uns in fein angelegter Weise eine Flucht vor uns selber, und schafft ... unvermeidlich wachsendes Leid" (Krishnamurti, J. o.J. S. 15), denn "Lebt man nur auf einer Ebene und läßt den Gesamtvorgang des Lebens außer acht, so fordert man damit Elend und Zerstörrung heraus" (ebd. S. 17).

Doch gibt es Möglichkeiten um eine Änderung herbeizuführen? Offensichtlich haben Erziehungskonzepte, oder Reformen keine grundlegende Veränderung gebracht: "Ohne das ganze komplexe Wesen des Menschen zu verstehen, wird bloße Reformierung nur das verwirrende Verlangen nach weiteren Reformen erzeugen" (Krishnamurti, J. 1984, S. 9). Nur das Fragen nach, und das Verstehen von uns selbst und nicht die Übernahme von Methoden, Grundsätzen, Autoritäten oder Idealen können eine echte Wandlung bewirken: 

    "Was ist Erziehung? Es ist im wesentlichen die Kunst des Lernens, nicht nur aus Büchern, sondern durch die ganze Bewegung des Lebens. ... Bücher sind wichtig, aber weit wichtiger ist es, jenes Buch, das ihre eigene Geschichte ist, zu studieren, denn Sie sind die ganze Menschheit. Dieses Buch zu lesen ist die Kunst des Lernens" (Krishnamurti, J. 1988, S. 122f).
Hier sollte deutlich werden, das nicht die Vermittlung von Wissen an erster Stelle steht. Wissen, das Erlernen eines Berufes etc. wird zwar als wichtig und notwendig erachtet, aber die grundlegende Erkenntnis hierbei ist, daß Wissen immer begrenzt, unvollständig ist, und damit die Gefahr eines Lebens auf der Basis dieser Begrenztheit impliziert:
    "Der Kern des Wissens ist der Beobachter, und er prägt dem, was er beobachtet, das auf, was er sich durch Erfahrung und die verschiedenen Formen sinnlicher Reaktionen angeeignet hat. Der Beobachter manipuliert immer das, was er beobachtet, und was er beobachtet, wird immer zu Wissen reduziert. So bleibt er immer in der alten Tradition befangen und bildet Gewohnheiten. 
    Lernen ist also reine Beobachtung - nicht nur der Dinge, die „äußerlich vor sich gehen, sondern auch derjenigen, die sich innerlich abspielen; zu beobachten ohne den Beobachter"
    (ebd., S. 38).
In diesem Zusammenhang sieht K. auch das Vergleichen, durch welches Lernen scheinbar gefördert wird, als höchst fragwürdig an:
"Die meisten Leute meinen, daß das Lernen durch den Vergleich gefördert wird, während doch das Gegenteil der Fall ist. Vergleich ruft Enttäuschung hervor und fördert lediglich den Neid, was Wettbewerb genannt wird. Wie andere Formen von Überredung verhindert der Vergleich Lernen und erzeugt Furcht"
(Krishnamurti, J., 1984, S. 10).
Aber nicht das objektive Erkennen der Unterschiede der Schüler hinsichtlich ihrer Fähigkeiten, ihrer Begabungen, ist hiermit gemeint, - dieses Erkennen ermöglicht ja erst eine optimale Förderung des Kindes - sondern den direkten, wertenden Vergleich des messenden Verstandes der zu einer Fragmentierung des Einzelnen führt. Die Einteilung der Menschen in "Gut", "Besser", "Schlechter", etc. verstellt die Sicht auf den Menschen, verhindert die Wahrnehmung, das Erkennen der Realität, dessen "was ist", wie Krishnamurti es ausdrückt. "Wenn A mit B verglichen wird, der klug, intelligent und selbstbewußt ist, so wird A genau durch diesen Vergleich zerstört" (Krishnamurti, J. 1988, S. 126). Nun, fragt K., kann der Erzieher den Vergleich und das Messen beiseite lassen, denn "Liebe vergleicht nicht" (ebd. S. 126f). Die ganze Atmosphäre einer Schule würde eine Wandlung erfahren, wenn das Gefühl von Wettbewerb und Vergleich erlösche. 
    "Eine andere Art der Erziehung ist notwendig - nicht die blasse Pflege des Gedächtnisses mit der ganzen Betonung auf Druck, Anpassung und Nachahmung, die zu Gewalt führen, sondern die Pflege der gesamten Kultur des Menschen, in der das Dein und Mein verschwinden und nicht durch den Staat oder eine neue heilige Figur ersetzt werden. Diese andere Erziehung ist mit Wissen, mit Freiheit beschäftigt. Weisheit ist in keinem Buch zu finden, noch im perfekten Wissen, sondern liegt in der Freiheit des Erkennens. Dieses Erkennen hört nie auf - und Weisheit beendet das Leid"
    (Krishnamurti, J. 1975, S. 10).
Damit setzt K. die Kompromißlosigkeit seiner Aussagen konsequent auch im Bereich der Erziehung fort:
Das "Besondere" an seinen Aussagen über Erziehung ist, daß sie uns eben keinerlei Konzept an die Hand geben, keine Leitlinie nach der es zu handeln gilt, und die immer einzuhalten wäre. Krishnamurti sagt meist nur sehr allgemein, wie und was  Erziehung sein, und wie sie nicht sein sollte.
Diese Äußerungen blieben aber wertlos, wenn sie nicht von beiden Seiten, dem Erzieher als auch dem zu Erziehenden selbst entdeckt und hinterfragt würden; das bloße Akzeptieren der Aussagen K.'s würde wohl das Gegenteil dessen bewirken, was sie sollen.